
Ein Blick in den Alltag von morgen
Montagmorgen, 6:30 Uhr. Laurenz wird von seiner Schlafanalyse-App sanft geweckt – abgestimmt auf seine Erholungsdaten und den heutigen Kalender. Während er duscht, berechnet sein digitales Finanzsystem im Hintergrund seine Wochenliquidität, gleicht sie mit geplanten Ausgaben und Sparzielen ab und passt automatisch seine Anlagequote an. Der Kühlschrank hat am Vortag fehlende Zutaten für sein Mittagessen erkannt – die Lieferung kommt pünktlich, bezahlt aus einem dynamisch priorisierten Haushaltsbudget. Die Buchung der Geschäftsreise am Mittwoch, die sein Kalender automatisch erkannt hat, wurde inklusive CO₂-Kompensation abgewickelt – Flug, Hotel und Versicherung liefen über Banklösungen im Hintergrund, eingebettet in die Plattform seines Arbeitgebers. Während Laurenz sich auf den Weg macht, erhält er über seine Smartbrille ein Echtzeit-Update zu seiner finanziellen Fitness. Seine Gesundheits-App hat einen Bonus freigegeben, weil er am Wochenende 30.000 Schritte geschafft hat – dieser wird automatisch auf seinen „Wellness-Sparplan“ angerechnet. Die Leasingrate für sein E-Bike wurde basierend auf seinem Nutzungsverhalten optimiert. Und als er am Abend spontan Konzerttickets kauft, streckt ihm die Plattform die Zahlung automatisch vor – basierend auf seinem Bonitätsprofil, das aus Echtzeit-Daten berechnet wurde.
Laurenz hat an diesem Tag keine bewusste Entscheidung mit seiner Bank getroffen – und dennoch wurde fast jede Transaktion durch eine eingebettete Bankdienstleistung ermöglicht.
Viele der beschriebenen Elemente gibt es heute bereits – wenn auch noch nicht flächendeckend oder nahtlos integriert. Doch angesichts der technologischen Entwicklung, der steigenden Nutzererwartung und der Marktdynamik ist dieses Szenario weniger Utopie als strategische Perspektive.
Das dahinterliegende Konzept heißt Embedded Finance
Embedded Finance bezeichnet die nahtlose Integration von Finanzdienstleistungen – etwa Zahlungen, Krediten oder Versicherungen – in digitale Anwendungen, Plattformen oder Endgeräte. Für den Endkunden entsteht ein reibungsloses Nutzungserlebnis, für Anbieter ein strategischer Zugang zu neuen Umsatzquellen.
Ein Beispiel aus dem Alltag: Wer im DB Navigator ein Ticket bucht, bezahlt direkt, schließt optional eine Reiserücktrittsversicherung ab und reserviert seinen Sitzplatz – eingebettet in einen einzigen, durchgängigen Prozess. Die Finanzdienstleistung tritt nicht mehr als separates Produkt auf, sondern wird Mittel zum Zweck.
Dass Embedded Finance kein neues Konzept ist, zeigt ein Blick zurück: 1926 gründete Henry Ford in Berlin die Ford Credit Company – um Autokauf und Finanzierung zu verzahnen [1]. Ein Vorläufer dessen, was heute in Asien längst zum Standard geworden ist: Sogenannte Super-Apps wie WeChat, Alipay oder Grab haben Finanzservices tief in den Alltag integriert. Nutzer können innerhalb einer einzigen App Fahrten buchen, Rechnungen bezahlen, Kredite beantragen oder Versicherungen abschließen – alles kontextbezogen, in Echtzeit und ohne Medienbruch [2]. Diese Integration hat neue Ökosysteme geschaffen und die Erwartungen an Finanzdienstleistungen weltweit neu definiert. Auch im B2B-Umfeld zeigt sich das Potenzial: Die HSBC bietet beispielsweise für Amazon-Händler in China eine eingebettete Handelsfinanzierung an – basierend auf Echtzeitdaten wie Lagerbeständen, Verkäufen und Rückerstattungen – ganz ohne klassische Bonitätsprüfung [3].
Marktdynamik
Embedded Finance entwickelt sich vom Nischentrend zur strukturellen Wachstumssäule im Bankgeschäft:
- Bis 2026 werden ca. ein Drittel aller Finanzprodukte außerhalb klassischer Bankkanäle abgeschlossen [4].
- Das erwartete Marktvolumen in Europa liegt bis 2030 bei rund 100 Mrd. €, davon 25 Mrd. € in Deutschland [5].
- Besonders dynamisch: Retail- und KMU-Kredite über eingebettete Kanäle – mit Umsatzanteilen von 20-25 % bis 2030 [4].
- 80 % der Banken erwarten signifikante Auswirkungen auf ihr Geschäftsmodell in den nächsten fünf Jahren [6].
- Parallel investieren über 80 % der Banken in API- und BaaS-Infrastrukturen, um Drittanbieter effizient anzubinden und skalierbare Embedded-Finance-Modelle aufzusetzen [7].
Ein Praxisbeispiel: Die Bank of China stellt in ihrer Londoner Niederlassung gemeinsam mit der Plattform LiquidX ein vollständig digitalisiertes Handelsfinanzierungsangebot bereit. Die Lösung ist direkt in die Supply-Chain-Systeme der Kunden integriert und ermöglicht automatisierte Abwicklung, API-Anbindung und Echtzeitbewertung – ohne Medienbrüche [8].
Vom Produktanbieter zum Plattformpartner: Strategische Neupositionierung von Banken
Die klassische Banklogik „Produkt entwickeln, vertreiben, Kunden binden“ reicht im Plattformzeitalter nicht mehr aus. Embedded Finance zwingt Banken, ihre Rolle neu zu definieren – als integraler Teil digitaler Wertschöpfungsketten.
Für Banken ergeben sich daraus vier konkrete Handlungsfelder:
- Strategie: Klare Positionierung – Infrastrukturpartner, Embedded Orchestrator oder integrierter Vertriebskanal?
- Technologie: API-first-Plattform, Echtzeitfähigkeit, modulare Architektur, regulatorische Sicherheit [9].
- Organisation: Aufbau einer dedizierten Embedded-Finance-Unit – unabhängig vom klassischen Bankbetrieb [9].
- Kooperationen: Zugang zu Plattformökosystemen über Partnerschaften, White-Label-Modelle und B2B2C-Konzepte.
Embedded Finance ist kein Trend, sondern ein struktureller Paradigmenwechsel. Banken, die bis 2026 keine embedded-fähige Plattformarchitektur aufgebaut haben, riskieren den Verlust ihrer Relevanz in digitalen Ökosystemen.
Die entscheidende Frage lautet nicht mehr ob, sondern wie Banken Teil digitaler Plattformen werden. Wer heute die richtigen Schnittstellen schafft, sichert sich den Zugang zum digitalen Betriebssystem des Kunden – und damit den Vertriebskanal von morgen.
Quellenverzeichnis
[1] Vgl. Wikipedia (2025): Autobank, https://de.wikipedia.org/wiki/Autobank
[2] Vgl. Najmi Abdullah, Fintech Singapore (2024): Embedded Finance Is Making Payments Easier for Everyone Across Asia, https://fintechnews.sg/104658/mobilepayments/embedded-finance-payments-easier-in-asia/
[3] Vgl. HSBC (2024): Warum Embedded Finance ein wesentlicher Bestandteil der Wachstumsgeschichte Asiens ist, https://www.business.hsbc.com/en-gb/insights/innovation-and-transformation/why-embedded-finance-is-integral-to-asias-growth-story
[4] Vgl. Murati et al., McKinsey & Company (2024): Embedded Finance: How banks and customer platforms are converging, https://www.mckinsey.com/industries/financial-services/our-insights/embedded-finance-how-banks-and-customer-platforms-are-converging?
[5] Vgl. Businesswire (2024): Germany Embedded Finance Business Report 2024, https://www.businesswire.com/news/home/20240524709534/en/Germany-Embedded-Finance-Business-Report-2024-Market-to-Grow-by-28.2-to-Reach-%249.79-Billion-This-Year—Investment-Opportunity-Forecasts-to-2029—ResearchAndMarkets.com
[6] Vgl. Karim (2023), Economist Impact: Can banks create a true ecosystem with embedded finance?, https://impact.economist.com/new-globalisation/can-banks-create-true-ecosystem-embedded-finance?utm_source
[7] Vgl. Everding et al., MyKinsey & Company (2023): APIs in banking: From tech essential to business priority, https://www.mckinsey.com/capabilities/mckinsey-digital/our-insights/tech-forward/apis-in-banking-from-tech-essential-to-business-priority?utm_source
[8] Vgl. LiquidX (2022): Bank of China Limited, London Branch Teams with LiquidX for Digital Trade Finance, https://www.liquidx.com/blog/bank-of-china-limited-london-branch-teams-with-liquidx-for-digital-trade-finance/?utm_source
[9] Vgl. Hatch et al., EY Global (2023): How banks are staking a claim in the embedded finance ecosystem, https://www.ey.com/en_sg/insights/banking-capital-markets/how-banks-are-staking-a-claim-in-the-embedded-finance-ecosystem

Delia Goralski
Bei ARKADIA seit 2024