Zwischen Diagnosen und Daten: Wie der Mensch im System verloren geht

Frau Schneider, 47 Jahre, erhält nach monatelangen Beschwerden die Diagnose Darmkrebs. Vom ersten Hausarztbesuch über Facharzttermine, Klinikaufenthalt, Operation, Chemotherapie bis zur Nachsorge erlebt sie ein System, das fachlich funktioniert – aber strukturell versagt. Termine koordiniert sie selbst, Befunde kommen verspätet oder gar nicht, Informationen fehlen an den Übergaben. Psychosoziale Unterstützung? Nur auf Nachfrage. Trotz moderner Medizin fühlt sie sich allein – nicht als Mensch im Mittelpunkt, sondern als Fallakte im System.
Mehr als Medizin: Warum Patientenzentrierung der Schlüssel für eine neue Gesundheitsversorgung ist
Unsere Gesundheitsversorgung ist mehr als medizinische Leistung – sie ist die Summe aller Erfahrungen eines Menschen im System. Doch viele fühlen sich im komplexen Gefüge von Akteuren und Prozessen orientierungslos.
Die Patient Journey ist der zentrale Rahmen, um Versorgung aus Sicht der Betroffenen zu verstehen und neu zu gestalten. Sie macht sichtbar, wo Patienten heute scheitern – und wo Versorgung neu gedacht werden muss.
Die digitale Transformation kann diesen Wandel von Grund auf ermöglichen – wenn sie konsequent auf den Menschen ausgerichtet wird. Es geht um mehr als Technologie: Es geht darum, Vertrauen zurückzugewinnen und Gesundheit greifbar, zugänglich und individuell zu machen.
Realität und Schmerzpunkte: Warum Patienten oft an Grenzen stoßen
Viele Menschen erleben ihre Gesundheitsreise als mühsam, fragmentiert und entkoppelt. Sie bewegen sich durch ein System, in dem sie oft nicht als Partner, sondern als Prozessobjekt behandelt werden.
Das System ist von strukturellen Barrieren und Interessenkonflikten geprägt:
- Ärzte/Ärztinnen, Kliniken und Pflegekräfte kämpfen unter hohem Druck um Ressourcen und Zeit – oft mit unterschiedlichen, teilweise konkurrierenden Zielen.
- Krankenkassen sind gezwungen, ihre Kosten zu kontrollieren, verlieren dabei aber leicht aus dem Blick, was der Patient wirklich braucht.
- Gesetzgeber und Selbstverwaltung schaffen Rahmenbedingungen, die zwar Sicherheit bieten, aber Innovation und Vernetzung bremsen.
Die Folge: Versorgungslücken, Verzögerungen und Vertrauensverlust. Ein Zustand, der nicht nur Prozesse belastet – sondern auch Heilungschancen beeinträchtigt.
Die Vision: Versorgung, die den Menschen wirklich sieht
Patientenzentrierung ist kein Zusatz, sondern eine Haltung. Sie basiert auf folgenden Prinzipien:
- Respekt vor individuellen Präferenzen und Lebensrealitäten
- Koordinierte, durchgängige Prozesse über alle Sektoren hinweg
- Verständliche Kommunikation auf Augenhöhe
- Einbindung des sozialen Umfelds und Förderung von Autonomie
Diese Haltung verändert Prozesse, Führungsverhalten und Systemarchitektur. Sie macht Versorgung menschlich – und wirksam.
Technologie mit Sinn: Digitale Tools als Brücke zur patientenzentrierten Versorgung
Digitale Lösungen können Brücken schlagen: zwischen Akteuren, Daten, Zeitpunkten – und Lebensrealitäten. Doch Technologie allein verändert nichts. Entscheidend ist ihre bewusste, nutzerzentrierte Gestaltung.
Potenziale, die konsequent am Patienten ausgerichtet sein müssen:
- Elektronische Patientenakten schaffen Informationsverfügbarkeit dort, wo sie gebraucht wird.
- Telemedizin erleichtert Zugang – gerade für jene, die sonst lange Wege auf sich nehmen müssten.
- Wearables und Apps fördern Selbstmanagement und Gesundheitskompetenz.
- KI-Systeme unterstützen Entscheidungen – nicht statt, sondern mit dem Arzt.
Für eine tiefere technologische Betrachtung empfehlen wir unseren Beitrag zur Digitalen Patient Journey. Dieser Blogbeitrag fokussiert bewusst auf strategische, kulturelle und methodische Perspektiven.
Brennpunkte, die den Wandel blockieren
Neben systemimmanenten Problemen treten heute fünf zentrale Herausforderungen in den Vordergrund:
- Sektorale Brüche: Schnittstellen zwischen ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung sind organisatorisch und digital nicht ausreichend verknüpft. Die Versorgung endet häufig an Zuständigkeitsgrenzen.
- Fragmentierte IT-Infrastrukturen: Fehlende Vernetzung und mangelnde Datenstandards verhindern einen flüssigen Informationsfluss.
- Datenschutzbedenken: Unsicherheiten führen zu Zurückhaltung – trotz dringend notwendiger Innovationen.
- Fehlende Partizipation und Gesundheitskompetenz: Viele Patienten fühlen sich nicht ausreichend informiert oder einbezogen und können komplexe Informationen oder digitale Tools nicht sicher nutzen.
- Unzureichende Outcome-Messung: Versorgungserfolge werden kaum aus Patientensicht gemessen – echte Qualitätsverbesserung bleibt schwer quantifizierbar.
Fazit: Die Transformation gelingt nur als integrierter Ansatz – technisch, organisatorisch, kulturell.
Warum nachhaltiger Wandel alle Ebenen gleichzeitig braucht
Patientenzentrierung erfordert mehr als Willen – sie braucht Struktur. Vier Prinzipien, die Führung, Organisation und Technologie miteinander verbinden:
- Gesundheitsorganisationen müssen bereit sein, Prozesse radikal am Patienten auszurichten und Verantwortung zu teilen.
- Führungskräfte sind gefordert, Kulturwandel zu fördern – weg von Silodenken, hin zu Offenheit und Vertrauen.
- Technologie wird als unterstützendes Werkzeug verstanden – nicht als Selbstzweck.
- Patienten müssen befähigt werden, Partner ihrer Versorgung zu sein – mit Zugang zu verständlichen Informationen und der Möglichkeit zur Mitgestaltung.
Dafür braucht es methodische Werkzeuge, die Strategie, Struktur und Praxis verbinden.
Der Weg zum Erfolg: Haltung trifft Methode
Im Beratungsalltag haben sich folgende methodische Werkzeuge bewährt:
Radikale Prozessorientierung am Patienten
- Patient Journey Mapping macht Reibungspunkte sichtbar und verbessert Abläufe entlang realer Versorgungspfade.
- Digitale Reifegrad-Analysen zeigen, wo Technologie sinnvoll integriert werden kann – und wo nicht.
Kulturwandel durch Führung
- Change-Management-Prozesse fördern Akzeptanz und nachhaltige Veränderung mit klarer Kommunikation und Feedbackformaten.
- Führungskräfteentwicklung befähigt Entscheider, Patientenzentrierung vorzuleben.
Technologie nutzerzentriert integrieren
- Iterative Entwicklung mit Nutzereinbindung stellt sicher, dass digitale Lösungen wirklich Mehrwert schaffen.
- Interoperabilität statt Insellösungen schafft Datenverfügbarkeit entlang der Journey.
Patienten befähigen und beteiligen
- Partizipative Entscheidungsfindung mithilfe gemeinsamer Therapieplanung durch strukturierte Gesprächsformate.
- Digitale Selbstmanagement-Tools unterstützen die Eigenverantwortung, z. B. durch Symptomtracker oder Medikationsapps.
Ausblick: Eine Gesundheitsversorgung, die wirkt – menschlich und messbar
Die Patient Journey ist weit mehr als eine Aneinanderreihung von Behandlungsschritten – sie ist die strukturelle und emotionale Basis für Gesundheitsversorgung. Ihre konsequente Gestaltung entscheidet über Vertrauen, Wirksamkeit und Qualität. Wer heute in Patientenzentrierung investiert, gestaltet nicht nur Versorgung besser – sondern zukunftsfähig.
Quellen:
Bertelsmann Stiftung „Patientenzentrierung und hochwertige Versorgung in einem modernen Gesundheitssystem“ vom 22.11.2023
Bundesgesundheitsministerium „Digitalisierung im Gesundheitswesen“ 5. Mai 2025
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/digitalisierung/digitalisierung-im-gesundheitswesen.html
Bundesgesundheitsministerium Krankenhausreform 21. März 2025
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/krankenhaus/krankenhausreform.html

Darleen Mylonopoulos
Bei ARKADIA seit 2025
Zertifizierungen: PSPO